Wieso Verletzungen weitere Verletzungen provozieren
Wir möchten mit ein paar alten Artikeln aus der Anfangszeit der “Neuro Athletik Welle”, die im Nachgang der FIFA WM 2014 eingesetzt hat, starten. Diese Artikel wurden auf dem Blog „Neuro Athletic Training“ von Teilen unseres Teams geschrieben. Der Blog ist mittlerweile leider nicht mehr aktiv, da die Gründer den Blog-Betrieb eingestellt haben. Daher bringen wir ein paar aus unserer Sicht gute Artikel auf unserem neuen Blog, um in das Thema einzuführen. Dieser Artikel „Wieso Verletzungen weitere Verletzungen provozieren“ wurde vor vier Jahren, im Februar 2016, als einer der ersten Blogartikel auf „Neuro Athletic Training“ von Steffen Tepel veröffentlicht.
Unser Gehirn liebt Sicherheit, Sicherheit und Vorhersagbarkeit
Dass Bewegung für eine gesunde körperliche und geistige Leistungsfähigkeit entscheidend ist, sollte jedem sportlich Interessierten klar sein. So weit so gut. Unsere westliche Lebensweise hat uns allerdings so weit von der Natur abgekoppelt, dass sogar beim opathleten die drei sensorischen Hauptsysteme (visuelles, vestibuläres und propriozeptives System) als primäre Informationsquellen (Input) des Gehirns ‘leiden’: Bewegung findet häufig nur im Training statt und wird dort meist auf dem unvorbereiteten Körper berdosiert. Der Spruch „No-Pain-No-Gain“ dient als konstanter Leitfaden und entspricht somit dem Gegenteil von dem was das ZNS als “sicher” und “vorhersagbar” beurteilt.
Viele Muskelverletzungen ohne Fremdeinwirkung im Fußball
Auffällig ist derzeit z.B. im Fußball die hohe Anzahl der wiederkehrenden Muskelverletzungen ohne Fremdeinwirkung, die wir als bewegungsinduziert bezeichnen. Selbstverständlich haben die Teams einen hohen Trainings- und Wettkampfaufwand. Wenn jedoch eine dermaßen hohe Verletzungsrate auftritt, könnte dies folgende Ursachen haben: Der Körper ist überfordert mit der Anforderung und/oder das Gehirn als bewegungssteuernde Instanz benötigt ein ‘Bewegungssoftware-Update’ bzw. eine Optimierung der INPUT Kanäle, um die spezifischen Anforderungen der Sportart besser zu handeln. Leider fehlen in der biomechanisch geprägten Reha- und Athletikwelt oftmals die Mittel um die Spieler und deren Körper optimal und individuell auf die hohen und spezifischen Anforderungen in ihrer Sportart vorzubereiten. Ein entscheidendes Trainingsprinzip, das SAID-Prinzip (Specific Adaptation to Imposed Demand) wird im Reha- und Athletiktraining noch nicht in vollem Maße berücksichtigt. Zudem ist jede Verletzung individuell und jeder Athlet hat eine individuell unterschiedliche Verletzungshistorie – beides sollte bei der Gestaltung eines effektiven Reha-Programms zwingend bedacht werden. Man sollte im Idealfall sogar die Verletzungssituation so gut wie möglich nachstellen und remodulieren und dort ansetzen (z.B. in welcher Rotationsstellung hat sich der Kopf befunden, wo waren die Augen etc.) “One-Fits-All-Lösungen” werden der Komplexität einer effektiven und effizienten Rehabilitation mit dem Ziel Folgeverletzungen zu vermeiden nicht gerecht.
Verletzungshistorie und Seitigkeit der Vorverletzungen von großer Bedeutung
Wenige kommen zum Beispiel auf die Idee eine Sprunggelenksverletzung mit einer vorherigen Kopf-, Knie-, Leisten, oder Bauchmuskelverletzung zu assoziieren. Daher sollte man die Verletzungshistorie und die Seitigkeit der Verletzungen bei der Analyse der Verletzungssituation miteinbeziehen. In einigen Fällen werden die verletzten Strukturen nicht ganzheitlich austherapiert sondern zu früh starker, rein biomechanisch gesteuerter Belastung ausgesetzt ohne die bewegungsteuernden, neuronalen Komponenten in der Rehabilitation zu berücksichtigen. Die zu simple Erklärung der Medien lautet dann meist: Pech! Glasknochen! Übertraining! Hier eine mögliche Erklärung aus Sicht der Neuroathletik: Durch Verletzungen sind Spieler zu teils sehr langen Pausen gezwungen. Die Rehabilitation verläuft mit Hilfe allerlei Maßnahmen, die die verletzte Struktur zunächst heilen lassen und anschließend stärken sollen. Beim letzten Punkt liegt der Hase im Pfeffer: Athleten sind nach langen Verletzungen selten „komplett wiederhergestellt“. Auch wenn ihr Gewebe wieder verheilt und das Fitnesslevel bei annähernd (meist subjektiv gefühlten) 100% ist, bedeutet dies nicht, dass die motorische Steuerung bzw. die ‘Bewegungssoftware’, die hinter der Bewegung steht, wieder optimal funktioniert. Durch die lange Bewegungsunfähigkeit gelangt zu wenig INPUT aus den verletzten Stellen im Körper zum Gehirn, wodurch “blinde Flecken” auf den motorischen Karten entstehen.
Die Folge ist, dass sich durch veränderte Aktivitätsmuster im Gehirn, die durch den mangelhaften Informationsinput aus der Körperperipherie (verletzte Stellen) entstehen, Kompensationsmuster bilden. Vereinfacht gesagt ist das Gehirn dann oftmals gezwungen mit einem alternativen Bewegungsprogramm, einem sog. Kompensationsmuster bzw. mit den “falschen” oder vermeintlich “stärkeren” Muskeln, die eigentlich andere Aufgaben hätten, zu kompensieren um der Bewegungsanforderung weiter gerecht werden zu können. Da diese kompensatorische Schonhaltung und die darin primär involvierten Muskeln jedoch meist nicht die Optimal-Lösung zur Ausführung der Bewegung sind, werden sie überlastet und stellen schließlich ihren Dienst ein. Die kinetische Bewegungsenergie überlastet somit den aktiven und passiven Bewegungsapparat, was schlussendlich zur Verletzung bzw. Folgeverletzung führen kann. Dementsprechend werden im Laufe der Zeit auch weitere Strukturen leiden, da die mangelhafte Motorik sich negativ auf den passiven Bewegungsapparat auswirken kann. Dieser Umstand ist häufig Ursache für Knorpelschäden und Arthrosen die lange Zeit nach einer Verletzung entstehen können. Daher sollten im Rehabilitationsverlauf auch immer zeitgleich die bewegungssteuernden Systeme mitaufgebaut bzw. “reprogrammiert” werden. Kurzum: Der Input aus den ‘sensorischen Satelliten’ zum Gehirn ist im Alltag und nach Verletzungen oftmals konstant zu schwach und wenn er dann im Reha- oder Athletiktraining stattfindet, ist er so groß, dass ihn das Gehirn nicht hinreichend interpretieren kann. Gerade Leistungssportler haben häufig das Ziel ihr Limit ständig zu verschieben und setzen sich dementsprechend zu starken Reizen aus. Wird dieser Zustand chronisch schlägt der Gefahrenfilter des Gehirns an, die Alarmglocken des ZNS läuten auch ohne Verletzung viel zu früh und Schutzreflexe setzen ein, die wie Bremsen auf die Performance wirken.
Fazit
Abschließend kann die Problematik mit Blick auf die Rehabilitation noch einmal wie folgt zusammengefasst werden: Es scheint um ein generelles Problem der symptomatischen Betrachtungsweise von Verletzungen zu gehen. Eventuell kommt man hierdurch nicht auf die Ursache hinter der Verletzung, hiermit sind vor allem bewegungsinduzierte Verletzungen gemeint, die ohne Fremdeinwirkung passieren. Wenn ein Gewebe verheilt ist, ist halt oftmals noch lange nicht die Ursache für die Verletzung behoben, nämlich die defizitären Aktivitätsmuster im Gehirn und die dadurch im Körper zu findenden Kompensationsmuster. Bei immer wiederkehrenden Verletzungen liegen immer auch neuronale Steuerungsprobleme im Hintergrund vor. Man kann eben erst von einem erfolgreichen Rehabilitationsprozess sprechen, wenn auch die „Software“, die hinter der Verletzung steht, mit korrigiert wurde. Einige Sportler hätten unglaubliches Pech, wenn es ständig Verletzungen mit „Gewalteinwirkungen“ von außen wären, wie Brüche durch brutale Foulspiele, aber bei bewegungsinduzierten Verletzungen, wenn einfach etwas reißt, kann man nicht immer von Pech sprechen.